Podcasts, Cappuccino, Grabsteine
Wie ein Friedhof zu meinem Naherholungsgebiet wurde
Es waren zwei ziemlich unterschiedliche Ereignisse, die mein Verhältnis zu meiner Wohngegend verändert hatten: Der Ausbruch der Pandemie und die Geburt meiner Tochter. Beide Ereignisse führten dazu, dass ich meine Umgebung – Jahre, nachdem ich hingezogen war – richtig zu entdecken begann.
Zu Lockdown-Zeiten irrte ich während der Arbeitspausen durch Wiedikon und Aussersihl und stiess dabei auf Plätze, Brunnen und Hinterhöfe, denen mein bisheriges durchgetaktetes Ich keines Blickes würdigte.
Als die Maskenpflicht fiel, kam meine Tochter zur Welt. Wieder wurde die Gegend rund um meine Wohnung mit ihren Strassen, Parks und Kaffee-Ständen zu meinem zweiten Zuhause: Täglich trug oder schob ich mein Kind durch die Gegend, bis es einschlief.
Eine Mutetaste für die Realwelt
In beiden Fällen wurde einiges abverlangt von mir. In den eigenen vier Wänden eingesperrt zu sein, war genauso wenig mein Ding wie mehrmals in der Nacht aufgeweckt zu werden von einem kleinen Geschöpf, das weder Schoppen noch Schnuller als Gegenleistung für etwas Ruhe für angebracht fand.
Dazu noch überschlugen sich die globalen Ereignisse: Es war wieder Krieg in Europa, die Pandemie spaltete unsere Gesellschaft und die Klimakrise verschärfte sich.
Diese Zeit verlangte nach einem Ort, wo ich der Hektik des Alltags entfliehen und mich Momenten der Ruhe hingeben konnte. Dieser Ort war der Friedhof Sihlfeld.
Während meiner väterlichen Streifzüge durchs Quartier zog es mich immer wieder dorthin. Mit einem Pappbecher voll Cappuccino in der Hand und dem Podcast „Fall Of Civilizations“ im Ohr schob ich den Buggy durchs imposante Eingangstor und dann den Kieswegen des Friedhofs entlang.
War meine Tochter eingeschlafen, warf ich mich — in der Regel erschöpft — auf eine der Sitzbänke und blickte über die Wiesen der Anlage. Hier, in dieser mystischen Melancholie, fand ich die entschleunigende Antwort auf eine Welt, die konstant an Tempo zulegt.
Es mag seltsam wirken, wenn ein Friedhof zum Erholungsgebiet erhoben wird – wer konfrontiert sich schon gerne mit dem Tod? Auf den Friedhof, da geht man hin für Beerdigungen, Grabbesuche – oder nachts als Mutprobe, wenn man Kind ist. Und für die innerstädtische Kurzkur im Grünen gibt es ja schliesslich genügend Parks (über 70 sollen es sein in Zürich).
Der Friedhof lebt
Doch der Friedhof Sihlfeld ist mehr als eine deprimierende Endstation unserer Existenz, mehr als eine leblose Tristesse. Zwischen der Melancholie der Grabstätten und der Trauer der Hinterbliebenen öffnet sich hier eine stille Welt des Diesseits.
Eltern schlendern mit frischgeschlüpftem Nachwuchs in der Trage über die Parkanlage, während sich Junge und Alte auf den vielen Bänken niederlassen, eine Zigarette anstecken, ein Buch aufklappen oder einfach den Blick über die Kulisse schweifen lassen.
Wahrscheinlich geniessen auch sie die Absenz von alldem, was man sonst in typischen Parkanlagen antrifft: Hier dröhnen keine Boomboxen, sausen keine Bälle vorbei, schwitzen keine Jogger:innen, johlen keine adoleszenten Männer mit Feldschlösschen-Dosen in der Hand und schnüffeln keine Hunde rum.
Dieser Friedhof ist ein Ort, wo auch die lebendige Seele Frieden findet.
Von alleine passierte das nicht. Eröffnet wurde die Anlage in ihrer jetzigen Form im Jahr 1877 als Zentralfriedhof für Einwohner:innen, unabhängig von Stand und Religion. Dank des Parkkonzepts, das neben zahlreichen Bänken grosszügige Wiesen und viele Bäume bietet, ist die 28,5-Hektar-Anlage die grösste öffentliche Grünfläche Zürichs und im Sommer einer der kühlsten Orte der Stadt.
Tritt man durch das Haupttor in den Friedhof ein, eröffnet sich einem eine Allee, die durch Familiengrabfelder aus dem neunzehnten Jahrhundert mit Grabmälern und ihren Inschriften führt. Wege, welche die Allee kreuzen, geben der Anlage Labyrinthcharakter und sind zu verlockend, um ihnen nicht zu folgen. Dann zieht man vorbei an Skulpturen, Statuen von mythologischen Heldengestalten und Engeln, dicken Eichen und historischen Mausoleen. Man wähnt sich in einem Freiluftmuseum und – mit etwas Fantasie – in einem Tim Burton-Film. Gleichzeitig gibt es hier queere Gräber, Ausstellungen zu popkulturellen Themen und Buchvernissagen – der Friedhof Sihlfeld ist ein Ort der Vergangenheit am Puls der Zeit.
Memento Mori 2.0
Ein Hörbuch, das während meiner Vaterschaftszeit aus meinen AirPods erklang, war «4000 Wochen – Zeitmanagement für Sterbliche». Der Autor Oliver Burkeman sieht darin den ungebändigten Drang unserer Gesellschaft, ständig produktiv zu sein, als eine Ablenkung. Eine Flucht vor der Tatsache, dass wir nur eine begrenzte Zeit auf diesem Planeten haben – nämlich durchschnittlich 76,7 Jahre oder 4000 Wochen. Das sei eine «schmerzhafte» Einsicht, die viele von uns verdrängen würden. Dabei liege gerade in dieser Einsicht die Lösung. Anzuerkennen, dass unser 4000-Wochen-Kontingent täglich etwas dahinschmilzt, hilft uns doppelt:
Erstens beim Treffen von Entscheidungen. Ja, wir haben unendlich viele Optionen, aber während unserer 4000 Wochen auf diesem Planeten niemals die Zeit, ihnen allen nachzugehen. Die Lösung: Sich für wenige Dinge zu entscheiden und dabei zu bleiben.
Zweitens hilft uns diese Einsicht, den Moment bewusst und in seiner eigenen Qualität so zu akzeptieren, wie er ist. Das riecht stark nach Kalenderspruch, ich weiss, aber Burkeman macht ein treffendes Beispiel: Ein Bekannter von ihm fand sich eine Woche nach dem plötzlichen und vorzeitigen Krebstod seines Freundes David unerwartet im Stau wieder. Seine übliche Reaktion auf die Situation wäre gewesen, sich endlos zu nerven. Stattdessen aber fragte er sich: «Was hätte David dafür gegeben, jetzt in diesem Stau zu stehen?».
Burkemans Buch hallt bei mir nach. Zum Beispiel, wenn ich kurz davor bin, das Musikmachen oder das Schreiben an den Nagel zu hängen. Dann denke ich daran, dass ich mich vor Jahren dazu entschieden habe und ich denke an die Fortschritte, die ich dabei gemacht habe. Ich denke auch an das Buch, wenn meine Tochter um 22 Uhr noch immer nicht schläft und ich deswegen mein Abendprogramm kippen muss. Dann rekalibriere ich meine Prioritäten und stelle schnell fest, dass die Momente mit meiner Tochter eine Folge «White Lotus» bei weitem schlagen.
Auf dem Friedhof Sihlfeld, auf der westlichen Seite des Grabfelds A, wird man mit der kalten Welt des Todes konfrontiert. Dort befinden sich die neuen Gräber, frisch ausgehoben, der Lack auf den temporären Kreuzen noch glänzend und die Bretter zur Abdeckung auf der Grube liegend - wartend auf jemanden, der vor ein paar Tagen noch lebte.
Es sind Gräber von Menschen mit dem Geburtsjahr meiner Schwester, meines Vaters oder mir selbst. Ihre Lebenswochen sind durch – sind sie ihr Leben lang vor ihrer Endlichkeit geflüchtet oder haben sie sich damit auseinandergesetzt?
Entschleunigung geht immer: «Play Me Something Nice» ist eine Serie mit Mixes von mir mit Ambient, Jazz, Downtempo, Klassik und was sonst noch so das Gemüt ruhigstellt. Hier kannst du reinhören.